[The Road to Hallelujah] Kapitel 1 – 1.1 Sarah

 Kapitel 1: Avici – „Wake me up“


Sarah

2 1/2 Monate vor dem Abflug

»Das macht nichts, Oma. Lass nur. Ich mach‘ das gleich sauber«, rief ich mit einem Lappen in der Hand und eilte von der Küche durch den vollgestopften Flur zurück ins Wohnzimmer. Meine Großmutter beugte sich vor, um nach meinen Putzutensilien zu greifen. »Gib mir das Tuch, Sarah-Schatz.«
Doch ich wich ihr aus, verstärkte den Griff um meine Beute, bückte mich und wischte eifrig den Boden und den Couchtisch trocken, die mit Apfelsaft bekleckert waren. »Auf keinen Fall. Leg dich wieder hin. Alles, was du machen musst, ist bald gesund werden. Dann kannst du wieder den Haushalt führen und hinter mir herräumen. Abgemacht?«
Wir wussten beide, dass dies so bald nicht der Fall sein würde. Dafür war ich zu stur und Großmutter zu schwach. Trotzdem gaben wir uns diesem Wunschdenken hin. Als sie mir keine Antwort gab, blinzelte ich von meinem Platz auf dem Boden aus zu ihr hoch. Sie starrte gerade abwesend ihre zittrige rechte Hand an, aus deren Griff zuvor das volle Glas gerutscht war. Immer, wenn mir wieder bewusst wurde, wie alt sie schon war, drückte ein dumpfer Schmerz in meine Magengrube, der sich nicht verdrängen ließ. Mit ihrem geblümten Nachthemd, dem hellen Bademantel und den zerzausten weißen Haaren, die sich partout nicht in ihrer Spange halten wollten, sah sie so zerbrechlich aus. Und nicht mehr wie die lebenslustige, starke Großmutter, die ich noch vor einem Jahr gekannt hatte und liebte.
Schließlich drehte sie ihr Gesicht zu mir und ihr einnehmendes, freundliches Lächeln rutschte zurück auf ihre Lippen, als ob nichts gewesen wäre. »Ja, Schatz. Du hast Recht. Sobald es mir wieder besser geht, werde ich dich nach Strich und Faden verwöhnen, dass dir noch ganz langweilig sein wird.«
Lächelnd stand ich vom Boden auf und steckte eine Strähne meiner widerspenstigen dunkelbraunen Locken zurück hinters Ohr.
»Hört sich klasse an, aber ich glaube nicht, dass mir langweilig wird, Oma. Bald steht doch mein Schulabschluss an und ich werde mit Lernen beschäftigt sein …« Ich machte mich auf den Weg zurück in die Küche und sprach mehr zu mir selbst, als ich leicht frustriert vor mich hin murmelte: »… Damit ich auch nur ansatzweise eine Chance habe, diese ganzen unnötigen Fächer zu bestehen. Ich weiß nicht, wozu wir diesen ganzen Mist überhaupt lernen müssen, wenn wir ihn später sowieso nicht brauchen.«
»Na, na, na, mein Kind. Nicht ausfällig werden.«
Mit einer Grimasse drehte ich mich um und stapfte zu ihr ins Wohnzimmer zurück. Wenn ich lernen wollte, musste sie für diverse Soap-Operas oder Talkshows den Fernseher immer lauter drehen, aber was nicht für ihre Ohren bestimmt war, das konnte sie problemlos hören.
Ist ja klar. Trotzdem musste ich grinsen, als ich mich neben sie setzte und ihre Hand nahm. »Oma, ich bin seit einem Monat achtzehn und werde wie gesagt in zwei Monaten meinen Schulabschluss machen. Ich bin erstens kein Kind mehr und zweitens hab ich doch Recht, gib’s zu.«
Zuerst blickte sie mich empört an, wie es wohl jeder erziehende Erwachsene tun würde. Doch dann stahl sich ein Schmunzeln auf ihre faltigen Gesichtszüge, bevor sie wieder versuchte ernst dreinzublicken. »Sarah, du weißt, wie wichtig eine gute Ausbildung und Noten sind. Und …«, aber da musste ich sie bereits unterbrechen.
»Ach komm schon, als ob ich das nicht wüsste. Ich lerne ja, aber trotzdem ist so ein Blödsinn wie Rechnungswesen oder Mathe unnötig. Ich werde das nie wieder brauchen und trotzdem muss ich mich durch diese Prüfungen quälen. Ich meine, hallo, sehe ich etwa aus wie eine spießige, konservative Steuerberaterin?«
Seufzend ließ ich die aufgestaute Luft entweichen und verschränkte die Arme vor der Brust. Es brachte sowieso nichts sich darüber zu beschweren. Das hatte ich bereits zu Genüge getan und so kurz vor dem Abschluss hieß es: in den sauren Apfel beißen und weitermachen. Wie wohl bei allen Anforderungen des Lebens.
»Nein, so siehst du wirklich nicht aus.«
Omas Augen funkelten vergnügt, während sie durch meine Haare strich und sie zu einem Pferdeschwanz zusammenhielt, nur um die Haare dann wieder fallenzulassen und von vorne zu beginnen. Es war eine Art Ritual, das sie immer machte, wenn sie mich oder sich selbst beruhigen wollte. Es gelang ihr jedes einzelne Mal.
Wer braucht da schon Yoga oder Entspannungsmusik?
»Ich weiß, dass du mit Zahlen nichts am Hut hast, mein Schatz. Aber nicht mehr lange und dann kannst du endlich dieses Marketingzeugs studieren und vorher deinen Ausflug machen. Das wird ganz toll werden. Du wirst sehen, bald kommt wieder Sonnenschein.«
Ein dickes Band wand sich bei ihren Worten eng um meine Brust, bildete eine Schlinge und zog sich mit einem Ruck fest zusammen. Die jahrelange Vorfreude auf diese Reise nach Amerika, meine Auszeit, war in den letzten Wochen immer weiter in den Hintergrund gerückt. Die Befürchtung, diese Erfahrung vielleicht nie machen zu können, wurde mit jedem Atemzug stärker. Aber ich wollte nicht, dass mir Großmutter dieses Gefühl vom Gesicht ablesen konnte, sonst hätte sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Daher setzte ich mich auf, schenkte mir ein Glas Wasser ein und nahm einen kräftigen Schluck.
Seit ich denken konnte und zufällig ein Bild der Freiheitsstatue gesehen hatte, war es mein Traum, für zwei, drei Monate in die Staaten zu gehen. Während Freunde kamen und gingen, ich eine Zahnspange angepasst und wieder abgenommen bekam, ich erwachsen geworden war und alles andere sich verändert hatte, blieb dieser Traum immer bestehen. Mein Blick glitt hinüber zum Bücherregal, in dem ein gerahmtes Foto meines Vaters stand. Angeblich hatte er aus Amerika gestammt, was vermutlich auch ein Grund für mich war, selbst dorthin fahren zu wollen. Ich wollte sehen, wo meine Wurzeln lagen. Hinzu kam, dass mein Bruder Nathan und ich sogar eine doppelte Staatsbürgerschaft und somit amerikanische Pässe besaßen, die wir noch nie benutzt hatten. Und nun, da ich bald den Abschluss in der Tasche hatte und endlich die Zeit gekommen war, konnte ich nicht gehen. Wie sollte ich Großmutter hier alleine zurücklassen, wenn Nat in Wien lebte und nur an den Wochenenden vorbeikam? Großmutter brauchte Unterstützung in ihrem Alltag – sie brauchte mich.

 

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