[Glasgow RAIN] 1 Kapitel

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1. Erster Blick

„Liebe auf dem ersten Blick
ist ungefähr so zuverlässig wie
Diagnose auf den ersten Händedruck.“
(George Bernard Shaw)

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Mit einem Knall, der durch das ganze Haus hallte, schlug ich die Schlafzimmertür hinter mir zu und schloss sie mit einer geübten Handbewegung ab.
„Victoria! Mach sofort die Tür auf! Diese Diskussion ist noch nicht beendet“, brüllte mein Vater, während er mit der Faust so hart gegen die Tür hämmerte, dass das Holz ächzte. Ich zuckte zurück und war froh, dass die Tür zwischen uns war, jetzt, wo er seiner Wut freien Lauf ließ. So schnell, wie das ungute Gefühl kurz in meiner Brust aufflammte, so rasch verschwand es auch wieder. Müdigkeit erfasste mich, und ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, ließ den Kopf zurückfallen und schloss die Augen. Kopfschmerzen kündigten sich an. Heftige, stechende Kopfschmerzen hinter dem rechten Auge – wahrscheinlich verursacht durch unseren Streit, den wir seit einigen Minuten, die mir aber wie Stunden vorkamen, führten.

Angefangen hatte alles mit der letzten Party, auf der ich seiner Meinung nach zu lange geblieben war. Mein alter Herr hatte ein riesiges Affentheater veranstaltet und wie am Spieß gebrüllt, weil ich nicht zur vereinbarten Zeit zu Hause gewesen war. Ich hätte um ein Uhr zurück sein sollen, aber ich hatte gewusst, dass es knapp werden würde. Was ich ihm – zu meiner Verteidigung – auch bereits im Voraus angekündigt hatte.

Cailean und ich hatten vor einigen Tagen unseren achtzehnten Geburtstag in der Villa seiner Eltern, den Murdochs, nachgefeiert. Unser beider Geburtstag lag aber genau in den Sommerferien, am 31. August. An sich ein tolles Datum für Poolpartys, aber auch schlecht, da sich zu der Zeit meist alle Freunde in anderen Ländern oder gar anderen Kontinenten befanden.

Nicht nur das Datum meiner Geburt, sondern auch der genaue Zeitpunkt war speziell, was ich schon immer interessant fand. Einerseits, da ich um Punkt Mitternacht zur Welt gekommen war, und andererseits, weil ich während eines ‚Blutmondes‘ geboren wurde. Den Begriff benutzten Fachleute für eine seltene Mondfinsternis, in der der Himmelskörper als kupferrote, mystische Scheibe am Firmament steht. Als ich mich zu dem Thema im Internet schlaumachte, stieß ich dabei auf bizarre Artikel über Sekten, Hexenkreise oder andere Fanatiker. Mich brachte dieser Aberglaube schon immer zum Schmunzeln und zum Kopfschütteln.

Unsere Party hatte – wie erwartet – lange gedauert, war mit hämmernder Musik laut und vor allem auch besonders feuchtfröhlich gewesen. Trotzdem rechnete ich nicht damit, dass es bereits halb sechs am Morgen sein würde, als mich Cailean in ein Taxi steckte, das mich nach Hause fuhr. Um diese Zeit war mein Vater bereits für die Arbeit fertig und schlüpfte gerade in seinen Mantel. Dass ich grün und blass im Gesicht war, verbesserte die Situation nicht besonders, oder dass ich dümmlich wie ein Huhn gackerte und kicherte, bis sich schlussendlich mein Innerstes nach außen kehrte. Ausgerechnet auf seinen maßgeschneiderten Anzug, die Schuhe und die Aktentasche, die hinter ihm stand.

Was ich für eine Millisekunde ganz lustig fand, verlor aber seinen Witz, nachdem ich in sein hochrotes, wütendes Gesicht blickte. Bevor er zu schreien begonnen hatte, pochte die Ader an seinem Hals, und seine Hand hatte gezuckt, als würde ein Faden in ihm reißen und er nach mir schlagen wollen. Aber er hatte es nicht getan – er tat es nie. Zu meinem Glück hatte er sich damit begnügt, lauthals zu schimpfen und mich böse anzufunkeln. Wie so oft, auch wenn ich einmal nicht die missratene Tochter war, die nie an seine hohen Vorstellungen herankam.

Damit konnte ich leben, und ich war es gewöhnt – besonders seit dem Tod meiner Mutter. Doch ich nahm es ihm nie krumm, etwas zu streng zu sein, immerhin musste er sich genauso alleine und verletzt fühlen wie ich. Nicht, dass wir darüber sprachen – so innig war unsere Beziehung nicht. Aber es war nicht nur meine Mutter gestorben, sondern auch seine Frau, die nichts und niemand ersetzen konnte. Weder Geld noch Freunde und noch nicht einmal seine kleine Tochter – oder nun schon eher seine fast erwachsene Tochter.

Deshalb tobte mein Vater erneut und war nicht begeistert über die anstehende Feier am heutigen Abend. Unsere Debatte, ob ich auf die Sommerschlussfeier unserer Schule gehen durfte, dauerte bereits länger, als von mir geplant. Das Fest war seit Jahren Tradition auf der „Highschool of Glasgow“. Es war keine gewöhnliche Party, sondern ein Event, bevor die Schule wieder anfing und der Alltagstrott einen einholte. Außerdem musste man einfach anwesend sein, ob man wirklich wollte oder nicht. Alles andere kam einem sozialen Selbstmord gleich, und den wollte ich in meinem letzten Highschool Jahr nicht begehen.

Wenn ich aber ehrlich zu mir war, wollte ich den Abend lieber zu Hause verbringen, mit einem spannenden Film und einer Schüssel Popcorn im Schoß oder mit einem guten Buch, anstatt mich wieder unnötig zu betrinken. Sicher könnte ich den Abend auch ohne Alkohol verbringen, aber dann würde er weniger Spaß machen, und die Nacht würde nur zur Qual werden – außerdem erwartete man es sowieso von mir. Jeder hatte seine Rolle vorzuführen, und ich spielte meine mit Bravour. Das Netz aus Oberflächlichkeiten gab mir auf bizarre Art Sicherheit und Schutz, da ich mich auf dem Terrain auskannte, das man auch Highschool nannte. Zusätzlich verbarg es meine Gefühle und Gedanken vor den ganzen Ratten und falschen Biestern an der Schule. Was will man mehr?

Um also mein Leben in der Schule wie gewohnt weiterführen zu können, sollte ich mich auf der verdammten Party blicken lassen. Koste es, was es wolle. Und, um das zu erreichen, musste ich wohl oder übel meine Nummer „das arme Kind“ abziehen. Deshalb motzte ich auch nicht „Nenn mich bitte nicht mehr Victoria“ zurück, sondern schluckte die Worte wie zähflüssigen Brei hinunter.

Mein Name hatte mir noch nie gefallen, und alle anderen nannten mich seit Jahren schlicht und einfach Vic. Nur mein Vater weigerte sich und nannte mich beharrlich Victoria. Er selbst hatte diesen Namen ausgesucht, da er eine Vorliebe für diese – seit Ewigkeiten – verstorbene Königin hatte. Andere Männer schwärmten von heißen Schauspielerinnen oder Sängerinnen, mein Dad ausgerechnet für tote Adelige.

Ich schob meinen Unmut beiseite, blies mir eine Strähne aus den Augen und zauberte ein strahlendes, hoffentlich gewinnendes Lächeln auf mein Gesicht, das auch Michelangelo nicht besser hätte malen können. Als ich die Tür öffnete, blickte ich in das vor Ärger gerötete Gesicht meines Vaters, den bekannten und reichen Alistair McKanzie.

Obwohl er schon fünfundfünfzig Jahre zählte, sah er für sein Alter noch ansehnlich und kräftig aus. Wie er da mit breiten Schultern vor mir stand, spürte ich wie immer sein unerschütterliches Selbstvertrauen, das man wohl nur durch ungewöhnlichen Erfolg oder ein großes Vermögen bekommen konnte. Seine blonden, kurzen Haare waren penibel nach hinten gekämmt, mit einer dezenten Andeutung eines Seitenscheitels. Fragend musterten mich seine zusammengekniffenen Augen. Doch er blieb stumm und wartete ab, wie mein nächster Schachzug wohl aussehen würde.

Reumütig und mit taktisch eingesetztem Augenaufschlag brabbelte ich meine Phrase herunter, in der Hoffnung, den Sieg im Streit davonzutragen.
„Dad, es tut mir leid! Ich hätte dich nicht anschreien dürfen. Manchmal bin ich zu aufbrausend und verbeiße mich. Aber das alles ist … auch für mich nicht so einfach. Es ist das letzte Schuljahr und … und sie fehlt mir.“
Meine Stimme brach. Ich schluckte überrascht den Kloß hinunter, der sich bilden wollte, und, wäre es nur eine Show gewesen, hätten mich meine schauspielerischen Fähigkeiten begeistert. Dem war aber nicht so, und deshalb versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Ganz sicher würde ich nach all den Jahren nicht jetzt zu heulen anfangen, schon gar nicht vor meinem Dad.

Als ich die Worte jedoch ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, wie ehrlich sie gemeint waren. Das war mein letztes Schuljahr, in dem mir meine Mutter hätte beiseitestehen sollen. Genauso, wie bei so vielen anderen Dingen auch, die ich aber alleine herausfinden musste: Wie bekomme ich Kaugummi aus den Haaren, wie putze ich meine Zahnspange richtig, wie tröste ich mich nach dem Tod von Bambis Mutter, oder wie finde ich den passenden BH. Ich hatte so viele Fragen als Kind, als Teenager oder auch jetzt und hätte meine Mum gebraucht – oder einen verständnisvolleren Dad. Aber alle Krisen hatte ich alleine überstanden, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern, davon musste ich überzeugt bleiben.
Ich atmete ruhig durch, sperrte unerwünschte, schwache Gefühle tief in mir ein und redete rasch weiter.
„Außerdem weißt du, dass alle von der Schule dort sein werden und ich ebenfalls dabei sein muss. Nach Mums Tod bin ich schon einmal das Gesprächsthema Nummer eins gewesen, und ich habe keine Lust, das zu wiederholen. Cailean wird auch dort sein. Du magst ihn doch. Also darf ich bitte, bitte auf die Feier gehen?“
Noch bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass ich ihn in der Tasche hatte. Seine Augen wurden weicher, wie auch sein brummiger Tonfall, der an einen alten Bären erinnerte.
„Victoria, es kann sein, dass ich manchmal zu streng bin und es wirkt, als wolle ich dich einsperren. Aber du machst es mir nicht immer leicht.“
Damit hat er gar nicht so unrecht. Doch diesen Gedanken behielt ich lieber für mich, um ihn nicht zu ermutigen, meine Fehler aufzulisten.
Mit einem strengen Blick fügte er hinzu: „Falls du dich benehmen kannst, darfst du gehen. Sag Cailean, er soll seinen Vater grüßen, ihn an unser Treffen kommende Woche erinnern und ein Auge auf dich haben. Ich will nicht, dass wieder geschwatzt wird.“
Erfreut schaute ich zu ihm hoch.
„Natürlich, danke! Ich werde mich ganz sicher gut benehmen. Pfadfinderehrenwort.“
Er blickte mich einen Moment mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck an, und ich wusste, auch er war sich darüber im Klaren, dass ich nicht ganz so anständig sein würde. Danach drehte er sich um und verschwand in Richtung seines Arbeitszimmers.
Die Freude über den Sieg währte nicht lange, denn gleich darauf stieg Bitterkeit in mir auf, wie Galle, die alles verätzte. Ich wünschte mir, er würde sich wirklich Sorgen um mich machen. Aber ich wusste, dass er sich mehr um das Gerede und die Meinung seiner reichen Freunde sorgte.

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Um von dem trübseligen Gedanken loszukommen, stürzte ich mich in eine andere Welt, in ein fantastisches Reich voll Träume, Liebe und Hoffnung – in mein Lesezimmer.
Die Tür zu dem kleinen Raum befand sich zwischen meinem rosa-weißen Himmelbett und dem weißen Schminktisch und gab den Weg in meinen „Träumereibereich“ frei. Hier erlaubte ich mir, mich fallen zu lassen und in die faszinierende Welt unzähliger Geschichten zu versinken. An Träume und Hoffnungen zu glauben, die ich mir im normalen Leben verbot. Lebte bei unzähligen Figuren und ihren Kämpfen mit, fieberte mit den verschiedensten Liebespaaren oder lachte mit den Narren – alle Figuren und alle Bücher gaben mir Hoffnung auf mehr Sinn im Leben, Zuversicht und Trost in bitteren Stunden. Hier war ich offen und frei – und hier durfte auch sonst niemand hinein.

An zwei Seiten meines kleinen Reiches befanden sich hohe Bücherregale, die bereits zu drei Viertel gefüllt waren. Ich strich mit den Fingerspitzen über den Rücken lieb gewordener Bücher und kuschelte mich dann auf die Couch direkt vor das Fenster, das durch blaue und violette Vorhänge verdunkelt wurde. Ich begann, in einem Buch zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Daher stand ich auf und nahm die losen Zettel mit Ideen und Geschichten in die Hand, die über den ganzen Tisch neben der Couch verstreut lagen. Ich war so unruhig, mein Bauch verkrampfte sich, und meine Haare fielen mir ständig ins Gesicht. Das ging so lange, bis ich sie genervt schnappte und zu einem Pferdeschwanz band.

Die Party lag mir schwer im Magen, doch mir blieb nichts anderes übrig, als hinzugehen. Denn ich konnte mich noch zu gut daran erinnern, wie es war, in der Schule eine Außenseiterin zu sein. Besonders schlimm war die Zeit gewesen, nachdem ich mit zehn Jahren an meine jetzige Schule wechselte und nach einem halben Jahr alle vom tragischen Tod meiner Mutter erfuhren. Vorher war ich „normal“ und eine unter vielen gewesen, ohne aufzufallen, was mir ganz recht war. Aber danach wurde ich schief angesehen und gemieden, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte. Auch von Mädchen wie Cecilia oder Bethany, die vorher meine Freundinnen gewesen waren. Oder zumindest hatte ich das gedacht. Dabei waren die Blicke nicht das Schlimmste gewesen, sondern das gemeine Getuschel – als wäre ich taub und hätte es nicht hören können. Es war eine bittere Zeit ohne Freunde gewesen, aber das Gute daran war, dass ich aus ihr gelernt hatte und nun wusste, wie man sich auf sich selbst verließ.

Als es Zeit wurde, mich schick zu machen, ging ich zum Duschen in das angrenzende Badezimmer. Die nachtschwarzen Marmorböden und das weiße Waschbecken glänzten mit den polierten, goldverzierten Armaturen um die Wette. Länger als nötig stand ich unter dem Wasserstrahl und genoss ausgiebig die wohlige Wärme, die mir meist nur in den Momenten unter der Dusche vergönnt waren. Hier im Norden war nicht nur das Wetter eisig, auch das Gefühl in mir war kalt wie feuchter Nebel, der sich viel zu oft durch Glasgow schlängelte und sich auch vom ständigen Regen nicht vertreiben ließ.

Fluchend hüllte ich mich in ein zu kleines Badetuch, welches mir gerade einmal über die Brust bis knapp unter das Hinterteil reichte. Wie schon häufiger in den letzten Wochen fehlten die großen Badetücher. Ich runzelte die Stirn, als ich mich nach dem Grund fragte. Einerseits empfand ich es als äußerst unangenehm, halb nackt durch den Flur zu laufen. Andererseits stachelte es meine Neugierde an, da so etwas normalerweise nie vorkam und Mrs Rodriguez, unsere Hausangestellte, immer einen einwandfreien Job machte.
Irgendetwas war anders – die fehlenden Badetücher, die anders zusammengefaltete Wäsche, Kleidung auf einem falschen Stapel. Ich nahm mir vor, der Sache auf den Grund zu gehen.

Fröstelnd und mit nassen Haaren flitzte ich in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir, völlig in Gedanken bei dem ungelösten Problem mit den Badetüchern. Als ich mich umdrehte und gerade mein knappes Handtuch lösen wollte, lief ich ungebremst gegen etwas – steinhart, aber trotzdem weich, groß, angenehmer Geruch. Plötzlich hörte ich einen Fluch aus einer männlichen Kehle, was mich in die Wirklichkeit zurückholte.

„Aua! Verdammt!“
Mit hämmerndem Herzen machte ich einen Sprung zurück und schaute in ein überraschtes, wie auch schmerzverzerrtes Gesicht. Mein Puls raste nur noch schneller, als ich in die großen, tiefschwarzen Augen blickte, die mich jetzt nicht mehr überrascht, sondern eher verschmitzt ansahen. Bevor ich etwas fragen konnte, plapperte der Typ, der mir beinahe einen Herzinfarkt beschert hätte, gutgelaunt los.
„Ich hab ja gewusst, dass man bei der Arbeit mit allem rechnen und sich versichern lassen sollte, aber von speziellen Unfallversicherungen für das Trampeln auf den großen Zeh habe ich noch nichts gehört. Ich dachte schon fast, der wäre gebrochen.“

Noch immer sah ich den Kerl vor mir wie in Trance an, obwohl ich ihn kannte. Nur hatte ich ihn bisher noch nie so nah und vor allem so genau angesehen. Seine Haare waren wie die Augen, fast schwarz wie die Nacht, aber mit einem dunkelbraunen Schimmer, und hingen ihm leicht gewellt und zerzaust in die Stirn und über die Ohren.

Ich wusste, dass er Rafael hieß und gemeinsam mit seiner Mutter, Mrs Rodriguez, im Angestelltenhäuschen am Rande unseres Grundstückes wohnte. Sie war unsere Haushälterin, und das bereits seit Jahren, doch das bedeutete in unserer Welt noch lange nicht, dass Rafael und ich Freunde waren oder irgendetwas miteinander zu tun hatten. Seine Mutter arbeitete für meinen Dad, aber was hatte ihr Sohn in meinem Zimmer zu suchen? Erneut riss mich seine Stimme aus den Gedanken.

„Princesa, wenn du jetzt hoffst, dass ich dir die Kleider – oder in deinem Fall das Badetuch – herunterreiße, um … na ja, du weißt schon was zu tun …“
Er unterdrückte ein Lächeln und tat sich sichtlich schwer, ernst zu klingen.
„… dann verlange ich aber eine Gehaltserhöhung für außerordentliche Dienste während der Arbeitszeit.“
Er hielt das anscheinend für äußerst komisch. Sein Grinsen wurde breiter und zeigte mir strahlend weiße Zähne hinter vollen Lippen. Unter normalen Umständen hätte ich ihm bereits eine schnippische Antwort entgegengeschleudert, aber ich hatte aus mir undefinierbaren Gründen die Stimme verloren. Was mir nie passierte, egal, wie heiß ein Typ auch aussah. Aber in diesem Augenblick schien alles andere zu verblassen, und ich konnte nur noch in seine dunklen Augen sehen. Sie waren derart bodenlos, dass es mich hätte beunruhigen sollen. Doch sein durchdringender Blick nahm mich gefangen und schmiegte sich wie eine warme Decke um meinen ausgekühlten Körper – so, als würde er wirklich mich sehen. Was mich am meisten an der Situation bestürzte, war die Tatsache, dass ich ihn schon so lange aus der Ferne kannte, aber er mir nie aufgefallen war. War ich so selbstverliebt und ichbezogen? Oder hatte sich in seinem Blick mir gegenüber etwas verändert?

Obwohl Rafael mit seiner Mutter in der Nähe wohnte, hatten wir noch nie ein längeres Gespräch geführt. Mrs Rodriguez war einige Wochen nach dem Tod meiner Mutter eingestellt worden, und in dieser Zeit hatte ich keinen Gedanken an andere verschwendet, sondern war in Trauer und Selbstmitleid verfallen. Als ich später mit ihm spielen wollte oder Mrs Rodriguez nach ihm fragte, vertröstete sie mich immer oder entschuldigte sich höflich. Irgendwann gab ich es dann auf, einen Spielgefährten in ihm zu suchen.

Über die Jahre blieb es bei kurzen Begrüßungen, wenn wir uns zufällig begegneten. Das war an sich seltsam, wenn man bedachte, dass Rafael sogar an der gleichen Schule war. Doch dort war ich nicht die Einzige, der er aus dem Weg ging. Er befand sich immer abseits, redete kaum mit jemandem, tippte lieber auf seinem Handy und hatte, soweit ich wusste, nur Freunde außerhalb der Schule. Um mein zeitweise aufflackerndes Schuldgefühl zu dämpfen, redete ich mir erfolgreich ein, dass er uns reiche Kids sowieso nicht leiden konnte. Zu meiner Schande musste ich auch gestehen, dass ich mir in den letzten Jahren nie viele Gedanken über ihn gemacht hatte, sondern nur darüber, wie seine Mutter das Schulgeld für ihn aufbringen konnte. Wir waren wie zwei Planeten, die zwar in der gleichen Umlaufbahn schwebten, sich aber nie trafen.

Bis heute – als hätte das Schicksal einen anderen Plan für uns. Denn nun standen wir hier in meinem Zimmer – ich halb nackt, er mit Schmerzen – und führten unser erstes, wenn­gleich auch einseitiges Gespräch. Mit amüsierter Stimme sprach er weiter und überbrückte das peinliche Schweigen.

„Kannst du auch reden, oder bist du nur zur Deko hier?“
Noch immer blickte ich ihn verdattert an und konnte meine Erstarrung nicht lösen, obwohl ich wahrscheinlich schon wie eine Bekloppte aussah und den Eindruck machen musste, als sähe ich das erste Mal einen Menschen.
Sein Lächeln verblasste, und er fuhr sich durch die Haare, um sich Strähnen aus dem Gesicht zu wischen, die ihm in die Augen hingen. Doch seine offensichtliche Ratlosigkeit aufgrund meines stummen Verhaltens hielt ihn nicht davon ab, weiterzuschwafeln.
„Also irgendwie machst du mir langsam Angst. Ich weiß, dass ich recht passabel aussehe, aber so wie du hat mich noch niemand angestarrt. Ehrlich gesagt schaust du so aus, als hättest du noch nie einen Mann gesehen.“

Verdammt! Ich stand komplett neben mir. Aber eigenartigerweise kam es mir tatsächlich so vor, als würde ich zum ersten Mal jemanden wie ihn sehen. Er sah exotisch aus und passte rein äußerlich gar nicht zu den Menschen im rauen Klima Schottlands. Die Leute hier waren blass, hatten helle Augen, helle Haut und meist blonde, rote oder hellbraune Haare. Doch er wirkte deplatziert mit seinen dunklen Haaren und der gebräunten Haut, die eher an einen ‚Latin Lover’ erinnerte, als an einen schottischen Naturburschen.
Eine Augenbraue hochgezogen, holte er mich wieder aus meinen Gedanken.
„Princesa, du weißt schon, dass ich nur Spaß gemacht habe, sí? Ich reiß dir schon nicht die Kleider vom Leib. Das würde ich bei dir nie machen.“
Interessant! Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und hob ebenfalls eine Braue. Schnell wedelte er beschwichtigend mit den Armen und setzte hastig fort: „Nicht, dass du hässlich wärst und ich nicht wollte. Ich würde es tun … wirklich … wenn … Ich meine, du …“
Schnell rieb er sich über den Nacken, als könnte das helfen, den Kopf aus seiner Schlinge zu befreien.
„… du bist hübsch … wirklich, sogar sehr … niemand würde dich von der Bettkante schubsen.“
Er stieß kurz Luft aus, als wäre er einen Marathon gelaufen. Dann versuchte er es wieder mit einem Lächeln, das so entwaffnend charmant war, dass mir der Atem stockte, und das sogar vorsichtige, alte Frauen dazu bringen würde, ihm ihr ganzes Erbe zu vermachen.

Langsam wurde mir das alles zu viel. Nicht nur sein Verhalten oder die Sprüche, sondern mein eigenes untätiges Herumstehen. Ich hatte meine Gefühle sonst immer im Griff und ließ mich nicht zügellos von ihnen führen, sondern umgekehrt. Aber er war wie ein Wirbelsturm über mich und meine Regeln hinweggefegt, und das musste enden – sofort.
Beschämt von meiner eigenen untypischen Reaktion und getrieben durch die Hitze, die in meinen verräterischen Wangen aufstieg, machte ich das Einzige, das mir in den Sinn kam, um dieser Situation einigermaßen würdevoll zu entkommen. Geschürt durch Wut auf ihn oder besonders auf mich, setzte ich zum Angriff an und fauchte, so verächtlich, wie es mir möglich war.
„Ganz ruhig mit den jungen Pferden, Casanova!“
Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, und meine Stimme wurde lauter.
„Was bildest du dir ein? Lauerst mir in meinem Zimmer auf, um was weiß ich zu tun, und dann kommst du auch noch mit so blöden Sprüchen?“
Endlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden, und es tat äußerst gut, sie zu hören. Besonders, als ich beobachtete, wie seine Augen immer größer wurden. Richtig in Fahrt gekommen, sprudelte meine aufgestockte Scham als Zorn aus mir heraus, und ich schrie beinahe, um meine eigene Unfähigkeit zu vergessen.
„Was zur Hölle machst du eigentlich in meinem Zimmer? Spionierst du herum, oder warst du gerade dabei, mir Sachen zu klauen?“
Schlechtes Gewissen regte sich sofort in meinem Inneren, nachdem ich die verletzenden Worte ausgesprochen hatte. Aber ich unterdrückte es und hielt meinen Blick fest auf ihn gerichtet. Zischend stieß er die Luft aus und spannte seine breiten Schultern an, sodass er fast vibrierte. Der Knoten in meinem Magen verhärtete sich. Abneigung mischte sich in seine vorhin noch lockende, tiefe Stimme.
„Das ist Schwachsinn! Ich würde nicht mal auf die Idee kommen, hier etwas anzufassen! Ich habe gearbeitet und habe gerade die frische Wäsche nach oben in Ihren Schrank gebracht.“
Sie mal einer an. Jetzt war ich kein Mädchen mehr, das man ausziehen konnte, sondern eine Frau, die er mit Sie ansprach. Dieses Spiel konnten auch zwei spielen, wenn er es darauf anlegen wollte. Mit herablassendem Tonfall und erhobenem Kinn formulierte ich meine Retourkutsche.
„Gut, wenigstens eine sinnvollere Tätigkeit, als jungen Frauen nachzustellen. Trotzdem würde es mich interessieren, ob mein Vater weiß, dass Sie für ihn arbeiten? Haben Sie irgendeine Erlaubnis? Soweit ich weiß, ist Ihre Mutter bei uns angestellt und sonst niemand. Da gibt’s doch sicher irgendwelche Vorschriften.“

Nicht, dass ich meinem Vater auch nur ein Wort sagen würde – ich war keine Petze, und ich würde ganz bestimmt nicht zu meinem Daddy laufen – aber das musste Rafael ja nicht wissen. Das hier war ein Spiel, das ich beabsichtigte zu gewinnen, nachdem der Start schon so miserabel gewesen war. Kurz verzog er seine Lippen, zuckte mit einem Lid, bevor sich sein Körper langsam wieder entspannte. Er musste ebenso bemerkt haben, dass die Situation gefährlich gekippt war, und er wirkte, als ob er jedes weitere Wort mit Bedacht wählen würde.
„No, es tut mir leid. Die Einwilligung Ihres Vaters habe ich nicht, also nicht offiziell.“
Er trat von einem Bein auf das andere, als suchte er nach der richtigen Erklärung.
„Es ist nur so, dass ich meiner Mutter manchmal aushelfe, wenn ihr die Arbeit zu viel wird in diesem riesigen Haus.“
Die Verärgerung in seiner Stimme war nicht zu überhören, obwohl er seidenweich schnurrte wie ein Kater.
„Bitte, ich wäre Ihnen, Miss McKanzie, sehr verbunden, wenn Sie es Ihrem Vater nicht erzählen würden, dass ich sporadisch bei der Arbeit helfe. Es sind nur Kleinigkeiten, ich schwöre es. Ich will nicht, dass meine Mum Ärger bekommt.“
Flüchtig sah ich von meinen Fingernägeln auf, die ich zuvor provokativ studiert hatte, und antwortete ihm so kühl es meine Stimme und meine verwirrten Gefühle zuließen.
„Ich werde darüber nachdenken, ob und was ich ihm erzähle.“
Mein Benehmen schien ihn erneut aufzuregen, was ich verstehen konnte – immerhin hatte ich es darauf angelegt, quasi als Retourkutsche. Denn nun ballte er die Fäuste und starrte mich an, als ob er mich erwürgen könnte. Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, um das Grinsen zurückzuhalten, das sich bilden wollte. Einerseits spürte ich unnachgiebig schlechtes Gewissen in mir hochkommen, aber andererseits tat es auch verdammt gut, ihn in die Schranken zu weisen und seinen Höhenritt etwas zu bremsen. Angestachelt durch seine Reaktion, sprudelten die nächsten Gemeinheiten aus mir heraus, bevor ich mich stoppen konnte.

„Bevor Sie gehen, hätte ich aber noch eine Frage. Kann es sein, dass Sie erst seit Kurzem bei der Arbeit helfen?“
Dabei klang ich wie eine dieser typischen, reichen Tussen, die ich von den früheren Besuchen aus dem Country Club kannte und verachtete. Erst vor zwei Jahren schaffte ich es, mich bei meinem Dad durchzusetzen, sodass er mich nicht mehr dorthin mitschleppte.
„Mir ist nämlich aufgefallen, dass nun schon öfter die großen Badetücher fehlen. Kümmern Sie sich besser darum, wenn Sie mich um irgendeinen Gefallen bitten wollen.“
Wie eine filmreife Diva trat ich einen Schritt beiseite und deutete mit dem Kinn auf die Tür.
„Das ist alles. Wenn Sie jetzt bitte mein Zimmer verlassen würden.“
Sein Anblick war ein Bild für Götter. Die Hände waren noch immer zu Fäusten geballt, die Unterarme fest angespannt, wodurch man die Muskeln zucken sah, und die Schultern waren steif. Mit zusammengebissenen Zähnen eilte er zur Tür, und seine Stimme klang eisig, als er mir antwortete: „Sí, natürlich, Miss McKanzie.“
Dann nahm er Reißaus und stapfte den Flur entlang. Trotzdem konnte ich sein leises Gemurmel hören.
„Ja, Eure Hoheit, ganz zu Euren Diensten. Dann werde ich auch gleich die Pferde satteln und Eure Kronjuwelen polieren …“
Der Rest wurde durch die Distanz verschluckt, und es blieb ein verächtliches Schnauben in der Luft zurück, als sein dunkler Haarschopf die Treppe hinunter verschwand. Sehr gut, den Typen hatte ich in die Flucht geschlagen, und würde ich wohl länger nicht mehr sehen – gemeinsam mit den irritierenden Gefühlen, die er in mir ausgelöst hatte und die ich nicht gebrauchen konnte. Eigentlich wollte ich die Tür zum zweiten Mal am heutigen Tag hinter mir ins Schloss knallen, aber meine zittrigen Finger schlossen sie gespenstisch leise.

Jetzt, wo er weg und unsere hitzige Diskussion zu Ende war, griff wieder die Kälte nach mir, stärker als zuvor. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen, die ich zu reiben begann, während ich im Zimmer auf und ab tigerte. Immer wieder spielte sich die Szene vor meinem inneren Auge ab. Meine vorhin verspürte Zufriedenheit wich schlechtem Gewissen, und ich wusste, dass ich mich wie eine verwöhnte, dumme Göre benommen hatte.

Aber was hätte ich sonst tun sollen, um ihm das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen und ihn wegzustoßen? Er hatte sich hier eindeutig zu wohl gefühlt, und ich musste doch etwas unternehmen, um ihn aus dem Zimmer zu bekommen. Mit einem tiefen Seufzer fiel ich auf das Bett und vergrub mein Gesicht in den riesigen Daunenpolstern. Egal, aus welchem Grund und wegen welcher Gefühle ich das alles getan und gesagt hatte – mit dieser Aktion hatte ich eindeutig den ersten Preis in der Kategorie „verwöhntes Miststück des Jahres“ gewonnen.

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2 Gedanken zu „[Glasgow RAIN] 1 Kapitel

    • Dankeschön. Freut mich zwar, aber ich selber mit gerade mit dem Anfang der Geschichte noch etwas unzufrieden. Muss da wohl nochmal den roten Stift dran setzen… bzw. Vic etwas sympathischer machen 😉

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